Die Lücken zwischen Ring, Shakespeare und Marilyn Monroe

MITTWOCH, 31. AUGUST 2016

#Dieter Stoll, #Kultur, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Woran kann man den Erfolg eines Theaters messen? Bei dieser Frage geht jeder halbwegs vernünftige Kulturfreund in Deckung, denn meist werden dann mit mahnendem Blick Steuergelder und Mehrheitsmeinungen gegengerechnet. Andererseits gibt es ja so viele Möglichkeiten, Erfolgsquoten gegen Vorurteile aufzubauen: Besucherzählung, Platzausnutzungsprozente, Vorstellungszahl inkl. Rahmenprogramme, Einnahmensteigerungen, Bravo-Rufe, Jubelkritiken, überregionale Auszeichnungen. Nähme man nur das Marktwirtschaftsprinzip von Angebot und Nachfrage, wären freilich die Mitsummgelegenheiten der munter strampelnden Seniorensause „Ewig jung“ und die schwerzüngig ins Fränkische umgelenkte „My Fair Lady“  auf unabsehbare Zeit die repräsentativen Orientierungspunkte im Nürnberger Theatersortiment, die Kronzeugen des Erfolgs. Unterm Strich gibt es dafür auf alle Fälle sicherer die Zustimmung des Publikums als bei den Favoriten der „Hochkultur“.


DARF‘S EIN BISSCHEN MEHR SEIN?

Klar, hier gilt‘s der Kunst! Oder war‘s das Image? Halten wir uns also zunächst mal an den neuesten Belobigungen fest. In der jährlichen Saisonbilanz des vom Deutschen Bühnenverein in Köln (Versammlung der Kulturpolitiker & Theaterleiter) herausgegebenen Magazins „Die deutsche Bühne“, wo 60 Fachjournalisten mit Sitz zwischen Berlin, Wien und Zürich (aber auch Gießen, Landshut und Herne) ihre Favoriten benennen, ist soeben das Staatstheater Nürnberg so oft genannt worden wie noch nie zuvor. In der Königsdisziplin der „Gesamtleistung“ steht die dreispartige Kulturfabrik vom Richard-Wagner-Platz nach der Berliner Schaubühne und dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg zusammen mit den Bühnen von Mannheim, Karlsruhe und Freiburg sowie Frank Castorfs immer noch spektakulärer Volksbühne Berlin dicht gedrängt auf dem imaginären Bronze-Treppchen. Mehr noch, bei der Spezialwertung „Tanz“ führt Ballettdirektor Goyo Montero zusammen mit der frei schaffenden Choreographin Antje Pfundtner (Kampnagel Hamburg) die Liste an. Lobende Erwähnung gibt es auch für Calixto Bieitos Operninszenierung „Aus einem Totenhaus“ (bei der Nürnberger Premiere zurecht gefeiert, dann bei nur halb gefüllten Vorstellungen leider schnell aus dem Spielplan verschwunden) und die Raumgestaltung zu Stefan Ottenis „Fidelio“-Variante „Töt‘ erst sein Weib“ (Peter Scior/Ayse Özel) im Dokuzentrum Reichsparteitagsgelände.

62 STUNDEN WAGNER, DAS FREUT AUCH DEN MASOCHISTEN

Auf zur neuen Saison, es ist die vorletzte der jetzigen Theaterleitung. Was die Wiederkehr der Regisseure betrifft, wird es wohl die Spielzeit von Georg Schmiedleitner. Der quirlige Österreicher, der am Wiener Burgtheater mit Nestroys Lustspiel „Liebesgeschichten und Heiratssachen“ angekündigt ist, stemmt in Nürnberg ganz andere Gewichte. Erstmals wird seine anspruchsvolle Inszenierung vom vierteiligen „Ring des Nibelungen“ komplett aufgeführt (vierfach, also bei 16 Vorstellungen grob gerechnet 62 Wagner-Stunden), dazu übernimmt er die Regie bei Alban Bergs „Wozzeck“, dem nach wie vor meistgeschätzten Musiktheater-Klassiker des 20. Jahrhunderts. Vor allem aber kehrt Schmiedleitner ans Schauspielhaus zurück, wo er zu Beginn von Klaus Kusenbergs Direktion im Jahr 2000 als damals noch strikt einspartig arbeitender Sprechtheatermacher mit Shakespeares „Schlachten“ ein grandioses Zeichen gesetzt hatte. Nun holt er mit „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ ein neuerdings wieder beachtetes, zuvor lange ruhendes und anno 1958 als Film durch Elizabeth Taylor und Paul Newman für die Ewigkeit bestimmtes Skandaldrama von Tennessee Williams auch in Nürnberg wieder auf die Bühne.

Mit zwei der grade mal fünf neu angesetzten Opern-Inszenierungen ist Peter Konwitschny die zweite prägende Interpreten-Gestalt der Saison (von ihm gibt es neben „Boris Godunow“ noch die Realisierung des bei uns nahezu unbekannten Verdi-Frühwerks „Attila“), aber vergleichbar mit Schmiedleitners Aktivitäten kann das denn doch nicht sein. Beide Konwitschny-Inszenierungen sind Halbfertig-Delikatessen zum An- oder Aufwärmen, in Wien und für Göteborg entstandene, auch von Lübeck  gebuchte Aufführungen, in die das Nürnberger Ensemble partnerschaftlich einsteigt. Dass daraus bemerkenswerte Vorstellungen werden können, hat sich bei „La traviata“ und (viel früher schon) „Orpheus und Eurydike“ aus dem Konwitschny-Fundus gezeigt. Wenn ich mir was wünschen dürfte, würde ich gerne wenigstens eine einzige „neue“ Oper in Nürnberg sehen. Miroslav Srnkas „South Pole“ wäre eine Idee oder HK Grubers „Geschichten aus dem Wiener Wald“ – in Darmstadt bzw. Hagen traut man sich das.

KLIMPERNDE BROADWAY-PERLENKETTE

Bei den als Naschwerk angelegten Musicals, wo Staatsintendant Peter Theiler für die Dauer seiner (bis 2018 währenden) Regentschaft statt Operette die Pflege der Broadway-Blütezeit als Spezialität versprach,  durfte das aus Berliner Revue-Stallungen stammende „Weiße Rössl“ dazwischen galoppieren, ehe nun wieder über Cole Porter zu Jule Styne der Weg ins gute alte New York weist. Wenn ich mir was wünschen dürfte, hätte ich aus den verfügbaren Titeln (wo Nürnberg in früheren Jahren ja von „Hallo, Dolly“ über „Der Mann von La Mancha“, „Annie get your gun“, „Can-Can“, „Mame“ und „Anatevka“ sowie der alles überstrahlenden „West Side Story“ längst fleißig die US-Bestenliste abgearbeitet hat) ganz gewiss eher das hinreißende Spektakel „The Producers“ von Mel Brooks gewählt. Das Stück nach seinem eigenen Film, der in Deutschland unter dem peinigenden Titel „Frühling für Hitler“ zu sehen war. Ein riesiger Erfolg am Broadway, für Wien und Berlin eine grandiose deutschsprachige Aufführung dieser vor wundervoll giftiger Albernheit bebenden Satire, der das typische Glamour-Publikum der kunstseiden schimmernden Sparte nicht traute. Auf alle Fälle  ein schwer zu besetzendes,  Musikalität und Komödiantentalent aller Abteilungen herausforderndes Projekt. Womöglich zu riskant, zu schwer für einen konventionell strukturierten Theaterbetrieb? Mag sein oder auch nicht – jedenfalls wird es das Stadttheater Regensburg wagen.

Die Nürnberger Musical-Perlenkette, die mit „Silk Stockings“, „Funny Girl“, „Singin in the rain“, „My fair Lady“ und „Kiss me Kate“ klimperte, fädelt für die vorletzte Runde (der nächste Intendant mag eher Rock-Opern) „Sugar“ von 1972 ein. Broadway-Fleißarbeiter Jule Styne hatte Billy Wilders Drehbuch zu „Manche mögen`s heiß“ ein Jahrzehnt nach der Verfilmung adaptiert – und die Last der Erinnerung an Marilyn Monroe, Jack Lemmon und Tony Curtis wurde das Musical trotz seiner  übermalenden Musik nie los. Nach Deutschland hat es sich erst 1989 über die DDR vorgearbeitet, das volkseigene Bespaßungsinstitut „Metropol“ gegenüber dem „Tränenpalast“ an der Ostberliner Friedrichstraße spielte erstmals die deutschsprachige Fassung, im Westen wurde das Stück später zögerlich nur in der „Provinz“ angesetzt. Man kann es 2016 also als Ausgrabungsschatz behandeln – und die letzten Worte des Filmabspanns bereit halten: „Nobody is perfect“.

Auch das Schauspielhaus bereitet zur Pflege der guten Laune die nächste Lachnummer vor. Wenn „Der nackte Wahnsinn“ abgespielt ist, wird „Pension Schöller“ folgen. Der unverwüstliche Klamauk-Titel von 1890, der seinen Witz u.a. vom Sprachfehler eines stolzierenden Knatter-Mimen abschöpft („Mir ist eine Fniege in den Hans gefnogen“) löst nicht nur deshalb gemischte Gefühle aus. Der von Theo Lingen bis Willy Millowitsch durchgereichte Schenkelpatsch-Bestseller, mit dem Schauspieler aller Grimassenklassen auch im Kino antraten (neun Verfilmungen, sogar Heißmann & Rassau waren schon dran), geriet bei Provokationsmeister Frank Castorf an der Berliner Volksbühne in Würgegriffe. Er dopte die Kalauer mit radikalen Texten von Heiner Müller und trieb den Krawall zur legendär gewordenen Szenenschlacht mit Zentnern von fliegendem Kartoffelsalat. In Nürnberg wird man auf die Sättigungsbeilage (und auch auf die echte Pythonschlange) verzichten müssen, wenn Bernadette Sonnenbichler, die kurz zuvor in Düsseldorf mit „Romeo und Julia“ in  anderen Seelenlagen unterwegs ist, die Stimmung von Publikum und Kassenwart beflügelt. Aber wenn ich mir was wünschen dürfte: Es sollte richtig doof (im Sinne von Stan Laurel) werden – wenn schon, denn schon!

SCHLANKHEITSKUR FÜR DICKE HELDEN

Der bei weitem größte Brocken im Schauspiel ist ein Wunschprojekt von Direktor Klaus Kusenberg, vermutlich das größte während seiner 18 Nürnberger Spielzeiten, nennt sich „Römische Trilogie“ und wird ein Dreier-Pack von Shakespeare-Tragödien, die es derzeit einzeln auf deutsche Bühnen schwerlich schaffen. „Coriolan“, „Julius Cäsar“ und „Antonius und Cleopatra“ als gestauchte Serie an einem (vermutlich vierstündigen) Abend. Ein weites Feld für den Berliner Dramaturgen John von Düffel, Spezialist für Schlankheitskuren an dickleibiger Literatur. Er hat Reduktionskunst zu seinem Geschäftsmodell gemacht, das unendlich viele Größen mit dem Rotstift umkreist. Thomas Manns „Buddenbrooks“ (Buch) verarbeitete er ebenso für die Bühne wie Bully Herbigs „Der Schuh des Manitu“ (Kino). In Nürnberg war im Vorjahr „Ödipus Stadt“, seine poetisch-dramatische Zwangsvereinigung von Sophokles, Euripides und Aischylos zum Antiken-Kränzchen in Kusenberg-Regie zu sehen. Dem Schauspiel-Chef hat das so gut gefallen, dass er von Düffel den Auftrag für den entlang an den drei abendfüllenden Dramen getriebenen Römer-Shakespeare gab. Das wird eine mächtige Uraufführung und für Kusenbergs derzeitigen Vorzugsmimen Stefan Willi Wang mit wechselnder Heldenmaske die extreme Herausforderung. Wenn ich mir (vom Team) was wünschen dürfte: Mehr Interpreten-Mut als bei „Hamlet“ und „König Lear“.

GEBURTSTAGSPARTY MIT ATATÜRK

Vielleicht vor Ort der aktuellste Theaterabend des Jahres: Dicht am Zeitgeist dürfte das Nürnberger Projekt des gelernten Mediziners und Theatermachers Tugsal Mogul aus Münster entstehen. Er entwickelt Recherche-Stücke über Themen, die ihm besonders nahe liegen, wurde am Gostner Hoftheater vor Jahren mit den um Ärzte und Patienten kreisenden Gastspielen „Halbstarke Halbgötter“ und „Somnia“ gefeiert. Mit der Uraufführung „2023 – Atatürks Erben“  wird er in einer fiktiven Gedenkparty zur Hundertjahrfeier der türkischen Republik eine sehr persönliche Reise durch Vergangenheit und Gegenwart antreten. Als die Premiere für Juni 2017 vereinbart wurde, war die neue Entwicklung des deutsch-türkischen Verhältnisses allenfalls schemenhaft erkennbar. Wenn ich mir was wünschen dürfte, würde ich diese Aufführung so schnell wie möglich als Bestandteil der laufenden Debatte sehen – aber sie wird wohl, fürchte ich, auch im Juni 2017 brisant sein. Botschafter-Einbestellung natürlich nicht ausgeschlossen.


 




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