Leitkultur-Geisterbahn: NEULAND in Erlangen

15. APRIL 2016 - 18. JUNI 2016, GARAGE



Minimal-Comic als Theater-Wunder. Am Abend vorher war im Markgrafentheater nebenan Elina Finkels düstere Tschechow-Inszenierung „Drei Schwestern“ mit ihren blitzenden Emotionsausbrüchen über  zerrinnender Hoffnung als „Heimatverklärung in vier Akten“ vorgestellt worden. Passend zum Saisonstempel „Heimat“, der in der „Garage“, der stattlichen Studiobühne des Hauses, bei der Uraufführung der Szenencollage „Neuland“ gleich wieder zuschlagen konnte. Auch diesmal  große Literatur als Basismaterial, nicht unbedingt „hohe“, aber die nach wie vor brutale Überraschungen bietende Sammlung der Gebrüder Grimm.

Als Regisseur Jakob Fedler und Ensemble-Schauspieler Christian Wincierz für ihr interkulturelles Projekt die neun mitwirkenden Schauspieler und Musiker  aus fünf „Herkunftsländern“ in Deutschkursen an der örtlichen Berufsschule fanden, war das gleichzeitig ein Kommunikationsangebot mit Hoffnung auf Rückkoppelung: Schau auf meine Phantasie, zeig mir deine! Das titelgebende „Neuland“, das man nach üblichem Sprachgebrauch zunächst mal „betreten“ muss, was allemal das Gegenteil von betretenem Schweigen ist, hat Zugang von vielen Seiten. Neues Land ist es in der gewollten Konfrontation der Kulturen, mindestens ebenso im Experiment ästhetischer Verbindungen. Also: Betreten erbeten! Trotzdem: Theater- oder Sozialprojekt? Hinter dem fetten Fragezeichen vor der Premiere stand natürlich der Verdacht, dass die Akteure (aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Aserbaidschan, Ukraine), die seit sechs bis achtzehn Monaten in Erlangen leben, auf der Bühne allenfalls nach den Maßstäben der Willkommenskultur zu messen sind.

Der Abend widerlegt die Vorbehalte, er zerlegt sie geradezu. Vor einer Sperrholzwand mit Advents-Fensterchen stürzen sich die jungen Darsteller mit dem aktuellen Stand ihrer Sprachenbeherrschung in die angebotene Leitkultur-Geisterbahn – und erschaffen dabei ein Mirakel von Comic-Minimalismus der Extraklasse. Wenn im völlig zurecht aus dem deutschen Betthupferl-Fundus verschwundenen Hausmärchen „Marienkind“ die Jungfrau Maria mit Foltersortiment auf persönlichem Rachefeldzug gegen Lügen ist, wirft sich ein bärtiger Mann den Madonnenschleier über als ob „Liebeskonzil“-Spötter Oskar Panizza noch ein Kapitel fürs „Brandneue Testament“ geschrieben hätte. Folgerichtig wird der Muttergottes-Macho in der  nächsten Fabel auch die Knusperhexe spielen. „Sprichst du nicht deutsch?“, fragt ein Prinz mit Pappkrone kopfschüttelnd seine stumme Braut. Dabei waren sie doch kurz davor allesamt an der Rampe gestanden und hatten in nahezu Orffscher Feinmechanik stolz aufgesagt, was sie an deutschen Werten schon verinnerlicht haben – beispielsweise die Namen verblichener und verbleichender bayerischer Ministerpräsidenten. Derweil bezwingt das „Tapfere Schneiderlein“, das ja eigentlich nur ein Fliegenfänger ist, in Helden-Pose reihenweise Riesen, Einhörner und Wildschweine, was der mit vorerst knappem Neuland-Vokabular operierende Darsteller aus Pakistan  nach jedem Sieg in bestem Homer-Simpson-Reflex mit „Juhu“ quittiert. Interkulturell eben.

Zwischen den unwiderstehlich witzig auf den Punkt gebrachten Comicmärchen taucht die Realität in biografischen Miniaturen auf. Es sind keine Klagelieder, eher ausgenüchterte Erinnerungen an schreckliche Fluchterlebnisse oder auch die schon spielerisch verarbeiteten Erfahrungen mit dem neuen Leben vor Ort. Mit viel Pantomime und Wortjonglage führt einer seinen ersten, hochkomplexen Supermarktkampf um „Oil“ vor, der nach vielen Missverständnissen und einer endlich identifizierten Flasche Öl für immer als Triumph des Umlauts bei ihm memoriert sein wird.

Der Erlanger Schauspieler Christian Wincierz ist das diskrete Medium der Compagnie, macht den  Chorführer im Hintergrund und gibt als gebürtiger Thüringer und Geflüchteter aus welkenden DDR-Landschaften den natürlichen Paten. Sein Solo als dummschwätzender Polit-Maulheld, der allen verblüfft guckenden Betroffenen mit gnadenloser Viertelbildung die Welt erklärt, ist ein satirisches Meisterstück. „Egal“, sagen die entnervten Angequatschten großherzig, und stimmen in den sentimentalen Mühlhausener Kirmeserinnerungen gerne beim Klang der freien Welt mit ein: „Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen“. Wincierz macht den Partnern nichts von ihrer besonderen Bühnenpräsenz streitig, so wie sie nicht nur an der Sprache, sondern auch als frisch sozialisierte Lebensraumpfleger ihr Umfeld putzen und polieren. „Picobello, juhu“, sagt der Syrer zutiefst befriedigt, wenn es nach Neulandes Sitte glänzt. Am Ende ein Kanon, so deutsch und notengetreu es geht: „Abendstille überall“, Volkslied für befreite Menschen. „Neuland“ in Erlangen ist Theater der wunderbarsten Art.


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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für nachtkritik.de
www.nachtkritik.de

Neuland

Interkulturelles Theaterprojekt (Uraufführung)
Regie: Jakob Fedler

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Termine
15.04.2016, 20.00 Uhr
16.04.2016, 20.00 Uhr
29.04.2016, 20.00 Uhr
30.04.2016, 20.00 Uhr
07.05.2016, 20.00 Uhr
09.05.2016, 20.00 Uhr
17.06.2016, 20.00 Uhr
18.06.2016, 20.00 Uhr




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