Theater zu den Feiertagen: Von der Mette zur Operette

DONNERSTAG, 10. DEZEMBER 2015

#Dieter Stoll

Der Mensch braucht Orientierung. Mein Religionslehrer, meine Oma und mein Bundestagsabgeordneter waren da aus unterschiedlichen Gründen absolut einer Meinung. Auch andere Philosophen sollen bereits Ähnliches geäußert und das zwischen Buchdeckel geklemmt haben. Aber woher nehmen, wenn nicht aus der Kultur? Wer nicht lesen will, muss fühlen!

Zumindest im Wochenradius um den Jahreswechsel herum kann geholfen werden, denn da haben sich Reste von eiserner Tradition aus Kirche, Kunst & Kokolores zum temporären Leitkultur-Triptychon gegen die unheimliche Elastizität der Eventgegenwart verbündet. Die Zeit (siehe unter: gute alte) rettet ihr Biotop der wahren oder wahrscheinlichen Werte weiterhin Jahr für Jahr durch den kalendarisch gesicherten Ausnahmezustand. Ja, ohne Lametta und Champagner, ohne Glaubensbereitschaft im dichten Anstoßverkehr ist auch der Wechsel von 2015 zu 2016 schlichtweg unvorstellbar. Zumindest für manche. Und viele von denen kommen ja lebenslänglich die jeweils restlichen elfeinhalb Monate mühelos ohne kulturelle Nebengeräusche aus. Umso wichtiger ist die geballte Ladung.

Alles schläft, o wie lacht
Dass die Kirche, zuvorderst die katholische, die Große Bühne beherrscht als sei der Vatikan das Mutterhaus von Mailands Operntempel La Scala (streikfrei, versteht sich!), gehört zu ihren weniger gut gehüteten Geheimnissen. Weihnachten ist alle Jahre wieder auch ein Urkraftfeld der Theatralik und dabei der strahlende Beweis für die Existenz schlummernder Kräfte – mit Rekordquote bis runter in die fränkische Diaspora. Zur nächtlichen Mette am Heiligabend, die in der Kirche Ihres Vertrauens zuverlässig auf ein Finale mit lichtüberflutetem, orgelumbraustem und einem in noch keiner Nordkurve je vergleichbar stimmgewaltig gelungenem Rundgesang zusteuert, dürfen auch die nicht hundertprozentig Gläubigen am eigenen Körper die individuelle Variante jener Gänsehaut erhoffen, auf die am nächsten Tag die Röhre wartet. Man ist gerührt, nicht geschüttelt. Also, jetzt alle: Stille Nacht … O du fröhliche … Alles schläft … O wie lacht!

Andererseits muss auf eine viel zu lang übersehene juristische Grauzone hingewiesen werden: Erfüllt der immer öfter beobachtete Christmettenbesuch durch Kirchensteuerverweigerer, die gebührenfreie  Kurzrückkehr nach dem Austritt, denn etwa nicht den Tatbestand der Gnadenbringungserschleichung? Gibt es den metaphorischen Griff ins lockige Haar wirklich zum Nulltarif? Kann denn jeder Trittbrettfahrer den Weihrauch schniefen wie er will? Kein Grund zur Aufregung, denn die Mette gehört nach demnächst zu erwartendem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zur kulturellen Grundversorgung wie die Fußball-WM zu den Öffentlich-Rechtlichen, und wer noch nie geschnorrt hat, der werfe den ersten Dominostein.

Glücklich ist, wer vergisst
Eine Woche später, wenn der abendliche Weg zu Korken- und Böllerknall mit gewisser Restwürde bewältigt werden muss, ist es komplizierter. Uralte Traditionen verlangen zu Silvester gleichaltrigen Humor, in der Regel also die Aufführung einer Operette, vorzugsweise „Die Fledermaus“. Nürnbergs Opernhaus spielt sie sogar zweimal nacheinander zu stark erhöhten Eintrittspreisen, was ja an sich schon eine Steigerung der Festlichkeit bedeutet. Mit dem Duett-Text „Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist“ wird dem Publikum für circa 100 Euro Eintritt pro Person auch gleich die Expertise fürs verflossene Jahr (und die Empfehlung fürs folgende) mitgegeben. Früher drängelten zu Vorverkaufsbeginn fürs Jahresschlussritual in Nürnberg mehrhundertköpfig die vorübergehend beurlaubten Menschenmassen live vor der Kassenhalle (jeder nur zwei Karten!) und nach drei Stunden war alles ausverkauft. Der Ansturm ist inzwischen übersichtlicher, online sowieso deutlich entspannt, doch „volles Haus“ bleibt weiterhin sicher. Im Fürther Stadttheater steht am 31.12.2015 übrigens das auch nicht zu verachtende Werk „Der Bettelstudent“ auf dem Spielplan, was dort zur ebenfalls sehr weise zusammenfassenden Bilanz „Mir ist manches schon passiert, aber so etwas noch nicht“ führen wird. Und Erlangen, die Hugenotten, Siemens- und Bergkärwastadt, zeigt im Markgrafentheater dem Leichtsinn tatsächlich die kalte Schulter – dort kann man zu Silvester erstmals den völlig untanzbaren „Nathan der Weise“ von Lessing buchen, und zwar „mit 1 Glas Sekt“. Prosit auf die Toleranz.

Wenn der Hund mit der Wurst …
Die jüngste der Jahreswechseltraditionen (das Nürnberger Altstadt-„Silvestival“ ist noch auf Bewährung) verdanken wir Funk und Fernsehen sowie der anhängenden Schnitzelstadt Wien. Ohne das jährliche, mediengestützte und botanisch aufgebettete „Neujahrskonzert“ von dort wäre in Nürnberg wohl niemand auf das spezifische Gala-Schunkeln zur jahreszeitlichen Hochstimmungsabrundung gekommen. Irgendwann um 1975 öffnete der damalige Opernhaus-Chef mit Blick auf den nahen Dreikönigstag und ungestillte Entspannungsbedürfnisse der unterspaßten Bevölkerung das Tor zum Paradies der Walzerseligkeit. Seither wird jedes Jahr zur gleichen Zeit dreivierteltaktvoll am Geschmack des Publikums gerüttelt. Weil die stoische Änderung der Programmreihenfolge zwischen Kaiserwalzer und Tritsch-Tratsch-Polka an Donauwellen und Frühlingsstimmen über Jahrzehnte denn doch nicht lange als innovativ galt, gab es aus Maestro-Hand in den ersten Hälften der Konzerte alsbald nette Überraschungen. Generalmusikdirektor Hans Gierster ließ da kabarettistische Salonmusik aus der Hexenküche von Arnold Schönberg spielen, der preußengläubige Nachfolger Christian Thielemann verblüffte mit Berliner Militärmärschen aus dem Fundus von Opa Hoppenstedt, der Franzose Philipp Auguin holte Jacques Offenbach als Espritladung auf den Vergnügungsdampfer, der amtierende Marcus Bosch kündigt für Jahrgang 2016 (fünf Termine vom 3. bis 6. Januar) die Rückkehr der Goldenen Zwanziger an.

Dem Publikum ist das egal, es wartet geduldig auf die Zugabe. Wenn da der Trommelwirbel einsetzt und der Dirigent sein Verschwörerlächeln blitzt, wird es Zeit für Mitbestimmung im Opernhaus. Der weltweit aus keinem Neujahrskonzert wegzudenkende Radetzkymarsch, Narhalla auf philharmonisch, lässt Interaktion nicht nur zu, er ruft in Gestalt des demonstrativ umgewandten und vor aller Augen aufmunternd fuchtelnden Pult-Herrschers zur Tat. Frohe Erwartung wird sodann in die Praxis umgesetzt. So manche Besucherin klemmt da glänzenden Auges das Louis-Vuitton-Täschchen zwischen die Knie und hebt beide Arme ohne Rücksicht auf Geklimper in die Ausgangsposition. Es wird auch diesmal wieder der künstlerisch schwierigste Teil des Musizierens, denn Rhythmus ist keine Frage des guten Willens und selbst unter durchtrainierten Abonnenten nicht jedermanns Sache. Im Rahmen der journalistischen Servicepflicht deshalb unser fürsorglicher Hinweis, dass das (möglichst stumme) Mitsingen des inoffiziellen Textes sehr hilfreich sein kann: „Wenn der Hund mit der Wurst übern Eckstein springt“. Gebrauchsanweisung: Zugeschlagen wird bei Hund, Wurst und Eckstein.

Und nächstes Jahr alles von vorn.

[Text: Dieter Stoll]




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