Theobald O.J. Fuchs: AUS DER WELT DER ERINNERUNGEN

DIENSTAG, 27. OKTOBER 2015

#Comedy, #Kabarett, #Kolumne, #Theobald O.J. Fuchs

Während ich wie verrückt auf dem Zeitstrahl reite, frage ich mich, wie meine Fahrt auf dem Jägerzaun, den wir die Welt nennen, für Passanten wirken mag, die ich überhole. Oder für all die Eckensteher, die erschreckt zur Seite springen? Die Gegenwart ist wie das Laub an den Bäumen, nur dass Sommer, Herbst und Frühling sich in Sekundenbruchteilen abwechseln. Erlebtes knospt und sprießt und verwelkt und fällt ab, ehe ich auch nur Tscha! sagen kann. Ehe ich beginne, meine Erinnerungen schriftlich von der nackten Erde aufzulesen, überlege ich stets gut, was mir danach noch bleibt.

Die Erinnerung an die Erinnerung? Oder etwas ganz anderes, nämlich die Springflut des Ausgedachten, die zu strömen anhebt, wenn der Damm der realen Geschehnisse abgetragen ist.
Meine Autobiographie wird in jedem Fall sehr nützlich sein, wenn mich dereinst die Enkel bitten werden, zu erzählen, was ich erlebte, als ich jung war. Ich muss dann nur sagen: lest doch einfach vor dem Zubettgehen meine Geschichten, da steht alles drin. Solcher Weise werde ich viel Zeit sparen, die ich darauf verwenden kann, darüber nachzudenken, was wirklich wahr war und was ich nur erfunden habe. Denn natürlich werde ich mich am letzten Ende nur noch an das erinnern, was ich mir ausdachte, an die Ausschmückungen und Übertreibungen, die Phantasien und Irrtümer, die mich befielen. Wer mag sich schon freiwillig an das erinnern, was wirklich war? Warum zum Teufel sollte man?

Die Realität ist, genau betrachtet, schrecklich langweilig und farbfrei. Man stelle sich nur einen Tag vor, an dem die Zeitungen absolut überhaupt nichts zu berichten haben - kein Krieg, kein Autounfall oder Flugzeugabsturz, keine Naturkatastrophe, kein Mord, kein Totschlag, die Entdeckung keines Elementarteilchens, kein Putsch, keine Wahl, keine Opernpremiere, nicht einmal eine Fürstenhochzeit oder das 125-jährige Jubiläum einer freiwilligen Feuerwehr. Das wäre ein Tag, der genausogut überhaupt nicht stattzufinden brauchte. Vollständig friedliche weil ereignislose 24 Stunden - und zugleich vollkommen überflüssige 24 Stunden.
Nein. Gleichwohl ich ohne all jene schrecklichen Dinge und Vorfälle auskommen könnte, bliebe mir nur die Phantasie, welche die Zeit zu jenem süßem Erlebensbrei verdickt, auf den ich Appetit habe. Die Realität selbst - die will ich niederschreiben, ausdrucken und zum Altpapier schicken. Beispielsweise diesem Heftchen.

Was ich deswegen unbedingt sofort festhalten sollte, ist meine Herkunft. Eine auf die Schnelle ausgedachte freilich, als sei sie echt, gleichwohl plausibel und rührend zugleich: Ich könnte etwa so etwas wie eine gespaltene Persönlichkeit sein. Nicht im pathologischen Sinn, sondern eher, wie es dieser Goethe einigermaßen hübsch ausdrückte, mit den zwei Seelen in seiner Brust. Ich wuchs nämlich in einem multikulturellen Haushalt auf. Der eine Elternteil entspringt wie die Waldnaab der Oberpfalz, der andere pegnitzgleich Mittelfranken. Eine irisch-ägyptische Familie ist dagegen betrachtet nur ein Scherz. Ein katholischer Vater, rotblonde Haare, von einem Porzellanmaler abstammend, etwas schlampig, aber einfallsreich, unternehmungslustig, kontaktfreudig. Und natürlich verständigt sich die zugehörige Hälfte meiner Verwandtschaft seit der Zeit Hugoberts des Torkelnden in komplett unverständlichem Muhen und Bellen.
Andererseits die Mutter evangelisch, altfränkisch-römisch, naturwissenschaftdings und logisch begabt, zugleich maximal bequem und zwischenmenschlich zurückhaltend. Kein Wunder also, dass ich selber nicht weiß, was da herausgekommen ist, als ich produziert wurde. Damals, kurz vor meiner Zeit.

Ansonsten gibt es nichts als eine allerletzte Kleinigkeit für die zukünftigen Geschlechter festzuhalten: meine Schwäche für überbackene Brezeln. Schinken-Käse. Ich muss gestehen: da werde ich zeitlebens nicht widerstehen gekonnt haben. Gräußlich!
Falls also meine Enkel dereinst wissen wollen, warum ich mal dies und mal das machte, warum ich sprunghaft war und hektisch, weshalb ich Physik studierte, nur weil ich neugierig war, obwohl ich nie ernsthaft damit rechnete, mit dem Diplom Geld verdienen zu müssen, sondern viel lieber meine Geschichten schrieb, auch wenn die mich niemals ernähren können - falls sie mir also saublöde Fragen stellen werden, die mir laserprall auf den Hinterhauptsnerv gehen werden, dann kann ich sie ab sofort auf diesen Text verweisen. Ob alles stimmt, was da steht, ist mir egal. Es ist das, was ich glauben werde, weil es ja nun da steht. Das finde ich prima - und obendrein habe ich ab sofort eine wunderbare schriftliche Entschuldigung. Für alles.

Und das nächste Mal schreibe ich vielleicht darüber, wie es mir erging, als ich diese Kolumne schrieb. Ich bin sehr gespannt, was dabei herausgekommen sein wird. Aus mir.


 




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Da saß ich im Bus nach Prag und dachte mir, wie unangenehm es sein müsste, von einer Stadt in die andere Stadt gebeamt zu werden. Also mittels Star-Trek-Transporter [https://de.wikipedia.org/wiki/Star-Trek-Technologie]. Man wäre ja im selben Augenblick da, in dem man abgeschickt wird, und würde die schöne Fahrt verpassen. Welche Auswirkungen der abrupte Ortswechsel auf die menschliche Seele hätte, ist noch völlig unerforscht. Zudem ja erst die Seele an sich definiert werden müsste. Das ist sonst ungefähr so, wie wenn man die Verdauung des Monsters von Loch Ness erforschen wollte.  >>
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