Andreas Radlmaier im Gespräch mit: Alexander Shelley

MITTWOCH, 1. JULI 2015

#Andreas Radlmaier, #Interview

Andreas Radlmaier im Gespräch mit Alexander Shelley, dem Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker.

Auch beim Klassik Open Air der Nürnberger Symphoniker geht es am 8. August im Luitpoldhain  um “Freiheit”, wie bei vielen anderen Kulturfestivals in diesem Jahr. Das vor 25 Jahren wiedervereinte Deutschland liefert den Anlass für “Freude, schöner Götterfunken” und andere Freiheitsbeschwörungen. Alexander Shelley, der offen lässt, ob er über 2017 hinaus Chefdirigent der Nürnberger Symphoniker bleibt, ist beliebt für seine lässige Art des Entertainens. Er gehört zur jungen Generation von Dirigenten, die klassische Musik vom Konzertsaal-Ritus des 19. Jahrhunderts befreien wollen. Und er hat Erfolg damit. Neben Nürnberg gehören das kanadische Ottawa und London demnächst zu seinen Arbeitsplätzen.

AR: Herr Shelley, beim Klassik Open Air servieren Sie dem Publikum musikalische Helden von Wilhelm Tell bis Robin Hood. Brauchen wir alle zusammen Helden?

SHELLEY: Spontan würde ich sagen: ja, aber unser Verhältnis zum Begriff Held ändert sich ständig. Wenn man zum Beispiel Richard Strauss hernimmt, enden seine heldenhafte Stücke – im Gegensatz zu Wagner – im Zwiespalt. „Don Juan“ hört sich dann so an: bomm – bomm – bomm. In England haben wir gerne Helden für zehn Jahre. Und dann mögen wir es, wenn sie ein wenig fallen.

AR: Ist das ein zentraler Aspekt der Heldenverehrung?

SHELLEY: Vielleicht. Wir empfinden in Zyklen, und das spiegelt sich im Menschen. Jedes Land hat Höhen und Tiefen. Was schön zu betrachten ist, wenn es zwischen diesen Höhen und Tiefen im Allgemeinen eine Steigerung gibt. Und manchmal sind diese Momente des Neubeginns, wie vor 25 Jahren, etwas ganz Besonderes. Deutschland in seiner heutigen Verfassung ist ein ganz anderes Land als vor 100 Jahren. Aus dieser Erschütterung des Zweiten Weltkriegs mit seinen verheerenden Folgen entstand etwas sehr Positives, auch für die ganze Welt. Solche Umschwünge haben die Menschen gerne.
Deutschland war ja eine Zeitlang ein heldenhaftes Land. Welche Kultur, welches Erbe gibt es hier?

AR: Taugen Dirigenten für die Heldenverehrung?

SHELLEY: Für das Publikum auf jeden Fall. Es hat ja schon immer Orchester gegeben, die versuchen, ohne Dirigenten auszukommen. Das hat seine eigenen Spannungen und Schwierigkeiten, aber dies ist immer gut hinzukriegen, wenn man das will. Das Publikum empfindet komplett anders, wenn vorne kein Dirigent steht. Auch wenn das Orchester hervorragend spielt.

AR: Woran liegt das?

SHELLEY: Weil der Dirigent den Fokus liefert. Das Auge hört auch mit. Es geht um Verkörperung der Musik, wenn es gut läuft. Musiker brauchen Helden, sind manchmal selber Helden. Orchestermusiker haben deshalb auch ein zwiespältiges Verhältnis zu Dirigenten. Wenn im Konzert eine Symbiose entsteht, sind Dirigenten wirklich – Helden ist vielleicht zu krass gesagt, aber vielleicht Anführer.

AR: Der Maestro kommt ja mitunter für manchen Fan gleich hinter dem Messias. Fühlen Sie sich auch als Held, im Luitpoldhain vor 70.000 Menschen zu agieren?

SHELLEY: Nein. Das werde ich oft auch von Familienmitgliedern gefragt. Einerseits ist das ein unglaubliches Gefühl, ich fühle mich aber als Teilnehmer des Ganzen. Ich bin ja sehr mit meinem Zeug beschäftigt, bin sehr konzentriert, ich dirigiere und moderiere. Ich stehe weniger auf der Bühne und sage mir schon gar nicht: Wow, wie toll bin ich!

AR: Spüren Sie die physische Präsenz dieses großen Publikums?

SHELLEY: Auf alle Fälle. Dieses Phänomen wird aber irgendwie abstrakt. Wenn du 70.000 Menschen siehst – die wirken wie ein einziges Wesen, sie verschmelzen irgendwie. Das ist schwer zu beschreiben. Man ist bei der Sache, man ist unheimlich hochgepusht und inspiriert durch diese Masse. Aber für mich fühlt sich das immer an wie eine Party.

AR: Weil die Stimmung so relaxt ist?

SHELLEY: Weil es so geil ist. Wie schön ist das denn, das Ding, das du liebst, also Musik vor 70.000 Menschen machen zu können? Und dass die auch mitgehen.

AR: Aus diesem Kick ziehen Sie den Lustgewinn, das Klassik Open Air jedes Jahr zu machen?

SHELLEY: Auf alle Fälle. Das ist das Highlight.

AR: Am 1. September übernehmen Sie einen zweiten Posten als Chefdirigent, beim National Arts Centre Orchestra in Kanada, und Sie wurden auch zum 1. Gastdirigenten beim Royal Philharmonic Orchestra in London ernannt. Spüren sie schon Engpässe im Kalender?

SHELLEY: Meine Frau ist zunehmend genervt (lacht). Es ist einfach so, dass ich durch meine Tätigkeiten in Ottawa und London weniger Gastdirigate annehmen werde.

AR: Wie viele Abende müssen Sie in Kanada machen?

SHELLEY: Ich mache 17 Wochen …

AR: Oha, vier Monate …

SHELLEY: Ja, in Nürnberg bin ich zehn Wochen und mit den Philharmonikern mache ich vier Wochen pro Saison, plus Tourneen. Das sind 31 Wochen. Für Gastdirigate bleiben dann etwa zwölf Wochen übrig. Da habe ich alles auf das Wesentliche reduziert. An schönen Orten. Ich mache jetzt in der kommenden Saison etwas mit dem Gewandhaus Orchester Leipzig, mit dem Deutschen Symphonie Orchester Berlin zum Beispiel.

AR: Ist das Engagement beim Royal Philharmonic so eine Art Ritterschlag, die Vorstufe zum Chefdirigenten?

SHELLEY: Es ist nicht so, dass man traditionell aufsteigt. Der 1. Gastdirigent ist einer, mit dem das Orchester gerne zusammenarbeitet und mit dem man eine Beziehung festzurrt. Es ist eigentlich eine Stufe für sich. Ich werde in London meine eigene Konzertreihe weiter entwickeln. Im kommenden Jahr lautet die Überschrift „Paris – New York“. Im Zentrum steht Musik aus den 20er, 30er Jahren, wo man zeitgleich Gershwin, Lieberg, Schönberg, Webern hörte.

AR: Worauf verwenden Sie aktuell am meisten künstlerische Energie?

SHELLEY: Darauf, wo ich gerade bin. Mein Job in Kanada ist ein wenig anders als der hier. Ich bin dort für die gesamte Saison verantwortlich. Ich muss die Richtung vorgehen, welches Repertoire das Orchester spielt. Das Spannende an Kanada ist, dass wir ein „National Arts Orchestra“ sind, also eine bundesweite Aufgabe haben, Musik und Kultur zu fördern. Quasi ein Ort zu sein, wo sich Komponisten wohl fühlen. Wir sind gerade dabei,
10 Millionen Dollar zu sammeln für neue Werke für die kommende Saison. Wir haben schon vieles in Auftrag gegeben. Schön ist auch, dass wir Kanada international vertreten. Wir planen wirklich tolle Tourneen mit dem Orchester. Wenn ich mal hier und da eine halbe Stunde frei habe, verbringe ich schon meine Zeit damit, mir Gedanken zu machen darüber, welche Rolle die klassische Musik heute hat, wie wir das vermitteln können. Ich bin fest davon überzeugt, dass neue Musik eine unglaublich wichtige Rolle zu spielen hat.

AR: Was meinen Sie mit neuer Musik?

SHELLEY: Es gibt Werke aus unserer Zeit, aber auch aus jeder anderen Epoche, die vielleicht selten gespielt werden und die man deshalb wenig kennt. Die Auseinandersetzung mit dem, was man nicht kennt, ist wichtig, weil man nicht weiß, was einen erwartet. Wenn man die „Fünfte“ von Beethoven hört, weiß man, was kommt, bevor man es gehört hat. Aber sich immer daran zu erinnern und daran zu erfrischen, wie es ist, ein Stück gar nicht zu kennen und Maßstäbe zu haben – wie betrachte ich das, wie höre ich das? – ist für unser Publikum wichtig.

AR: Warum?

Alexander Shelley: Nach meinem Empfinden gibt es zwei Publikümer. Beim Film, beim Pop, im Theater. Es gibt Leute, die gehen dorthin, weil sie die Stücke kennen und gerne noch mal erleben wollen. Und es gibt ein Publikum, das etwas ganz anderes hören will: etwas Neues. Diese zwei Gruppen sind normalerweise komplett getrennt, auch die Typen und ihr Ethos. Was für mich spannend ist, bei der Klassik und vielem anderen, sich der Zeit zu vergewissern, in der das entstanden ist. Was ist neu, was nicht? Vor ein paar Wochen haben wir die „Jupiter-Symphonie“ gemacht. Und ich musste dem Orchester nochmals sagen: Wir kennen das natürlich rückwärts auswendig. Aber das, was hier in den letzten drei Minuten geschieht, mit der Fuge, ist unglaublich, auch für die damalige Zeit. Keine Berührungsängste zu haben zu neuer Musik ist wichtig.

AR: Und wie macht man das?

SHELLEY: Das geht nicht über Nacht. Ich möchte in Kanada weg von den Begriffen „Mögen“ oder „Nicht-Mögen“. Diese Begriffe spielen keine wirkliche Rolle in der Kunst. Viel wichtiger ist zu begreifen, welche Aufgabe die Musik hat. Schostakowitsch konnte schöne Melodien schreiben wie kein anderer. Aber in seinen Symphonien, in seinen Sonaten machte er etwas komplett Anderes. Denn ihm war nicht danach. Da geht’s nicht um „Mögen“ oder „nicht Mögen“. Du gibst ihm nicht die Möglichkeit, Trauer auszusprechen oder Gleichgültigkeit und alles andere. Darauf dürfen wir in Kanada eingehen. Das ist unsere Aufgabe.

AR: Da gibt’s auch populäre Musikreihen, oder?

SHELLEY: Genau. Das National Arts Centre ist ein riesengroßes Gebäude mit vier Sälen, mit einem großen Konzertsaal, zwei Theatern und einem Multifunktionssaal. Es gibt Ballett, Ausstellungen, wir veranstalten Pop, auch Pop Classic.

AR: Eine obligatorische Frage zum Schluss, die zurückführt in den Nürnberger Luitpoldhain: Welche Massenbewegung planen Sie mit dem Publikum beim Klassik Open Air?

SHELLEY: Oh, da muss ich mir noch etwas ausdenken.


FOTOS: CRISTOPHER CIVITILLO. www.cris-c.de

FÜR NÜRNBERG: ALEXANDER SHELLEY
seit 2009 ist Shelley der Chefdirigenten der Nürnberger Symphoniker - nun hat er verlängert bis Sommer 2017.
Shelley wurde 1979 als Sohn einer Musikerfamilie in London geboren und studierte Cello und Dirigieren am Royal College of Music in London und an der Robert-Schumann-Musikhochschule in Düsseldorf. 2005 gewann er den Dirigierwettbewerb Leeds Conductors Competition. Mittlerweile hat Alexander Shelley zahlreiche Orchester weltweit dirigiert. In seiner englischen Heimat stand er unter anderem am Pult des Royal Philharmonic Orchestra in London, des Royal Liverpool Philharmonic Orchestra sowie des English Chamber Orchestra und engagiert sich in innovativen musikpädagogischen Programmen. Seine Operndirigate setzte er 2011 mit „Romeo und Julia“ an der Königlichen Oper in Kopenhagen und 2012 mit „La Bohème“ an der Opera Lyra am National Arts Center in Ottawa fort.
Schön: Den Nürnberger Symphonikern und uns bleibt er bis 2017 treu.

FÜR CURT: ANDREAS RADLMAIER
Andreas verantwortet u.a. das Bardentreffen, Klassik Open Air, Stars im Luitpoldhain - grosse Events und wichtige Themen dieser Ausgabe.
Andreas Radlmaier und curt stehen seit Jahren beruflich im Kontakt, denn als Leiter des Projektbüros im Nürnberger Kulturreferat ist er verantwortlich für oben genannte Festivals, sowie für die Entwicklung neuer Formate wie Silvestival, Nürnberg spielt Wagner und Criminale. Einen Großteil dieser Formate begleitet curt journalistisch.
Andreas ist seit über 30 Jahren in und für die Kulturszene tätig. Studium der Altphilologie, Englisch und Geschichte, Zweites Staatsexamen. Volontariat bei den Nürnberger Nachrichten. Bis 2010 in verantwortlicher Position in der Kulturredaktion der Abendzeitung Nürnberg.
2003: Kulturpreis der Stadt Nürnberg für kulturjournalistische Arbeit und Mitarbeit an zahlreichen Publikationen.
Willkommen bei curt, lieber Andreas! Wir freuen uns auf die Mitarbeit eines ausgewiesenen Kulturexperten!

 




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