Hitlers Widersacher: Der Prozess des Hans Litten

15. OKTOBER 2016 - 26. FEBRUAR 2017, STAATSTHEATER

#Dieter Stoll, #Kritik, #Staatstheater Nürnberg, #Theater

Der allein auf großer Bühne sitzende Mann am Flügel hat sich den Hemdkragen gelockert und spielt versonnen eine Sonate, als die gewaltige Explosion den Frieden zerfetzt. Im harten Schnitt fallen Wochenschau-Bilder vom Berliner Reichstagsbrand 1933 über die Idylle her, das Chaos scheint besiegelt.

Schnitt zurück von der History-Konserve zur Bühnenrealität, die sich sehr deutlich als Transportmittel der Wahrheit versteht. Es geht um eine Frau, einsam im möblierten Zimmer, und einen gefesselten Mann, im Kellerraum der SA-Hilfspolizei. Mutter und Sohn, Irmgard und Hans Litten. Er ist der junge Anwalt, der es zwei Jahre vorher tatsächlich gewagt hatte, Adolf Hitler persönlich vor Gericht als latenten Gewalttäter zu entlarven und nun in sogenannter Schutzhaft von dessen Anhängern zusammengeschlagen wird. Sie ist die Mutter, die alles tun und notfalls auch Verrat begehen will, um den Sohn zu retten, dafür sogar mit „Heil Hitler“ ins Gestapo-Quartier stürmt. Beide hatten die Nazis zu lange unterschätzt. Hans Litten nimmt sich 1938 nach qualvoller Gefangenschaft im KZ Dachau und dem Ende aller Hoffnung das Leben, Irmgard Litten flieht nach England, will gegen das Unrecht „schreien“ und bringt im Kriegsjahr 1940 in London das Buch „A Mother Fights Hitler“ heraus.

Der britische Autor Mark Hayhurst hatte sich dem „Fall Litten“ bereits mit einer BBC-Dokumentation und einem darauf bauenden TV-Film genähert, als er die Geschichte 2014 fürs Chichester Festival Theatre noch einmal neu erzählte. Sein Stück, im Vorjahr auch in London erfolgreich, rückt die kämpfende Mutter als Überlebende in den Mittelpunkt und macht den Sohn zum intellektuellen Sparringspartner zweier prominenter Zellengenossen. Der provokante Anarchie-Poet Erich Mühsam, wütender Antifaschist, und der um strategischen Widerstand ohne Gewalt ringende „Weltbühne“-Herausgeber Carl von Ossietzky führen im Kerker sarkastische Wortgefechte, die wie Stabilisierungsübungen in Moralfitness wirken. Hans Litten ist fasziniert von diesen Geisteshelden des anderen Deutschland.

Jean-Claude Berutti, der Regisseur der deutschen Erstaufführung, entwickelt daraus realistische Stationendramatik mit stilisierter Möblierung (Gefängniszelle, Gestapo-Büro, Berliner Waldkulisse mit Vogelzwitschern, Konzentrationslager), die dem  Zuschauer Szene für Szene die Betroffenheit als Quittung abverlangt. Auf meist abgedunkelter Bühne mit viel Schattenwurf (Ausstatter Rudy Sabounghi hat allem einen Bodenbelag mit Pflastersteinmuster unterschoben und lässt Stacheldrahtzäune immer wieder aus dem Bühnenhimmel runter und rauf fahren) werden die Figuren mit Suchscheinwerfern isoliert, die Szenenfugen mit viel „Die Fahne hoch“ überplärrt. Jede Person ist mit dem ersten Auftritt festgeklopft. Den Akteuren bleibt nichts anderes, als fertige Charaktere mit professioneller Empathie auszumalen. Patricia Litten ist da in einer besonderen Lage: Die Schauspielerin, die in Nürnberg früher unter anderem Schillers Maria Stuart und Racines Phaedra spielte, empfindet hier das Leid ihrer eigenen Großmutter nach. Sie tut das bei allem spürbaren Mitgefühl ohne Sentimentalität, zeigt deren burschikosen Durchsetzungswillen und hat besonders ergreifende Momente in der still machenden Verzweiflung. Wohl ein Grund dafür, dass die Aufführung weniger schneidig endet als im Original. Philipp Weigand ist Hans Litten, der mit dem Recht triumphieren wollte und im Unrecht untergeht. Sein sichtbares Ringen mit der Figur, die ans eigene Heldentum nicht glauben mag und mit eckigen Gesten überall an Fragezeichen stößt, bringt die interessantesten Einsichten.

Die stärksten Effekte nutzen Pius Maria Cüppers (Erich Mühsam) und Marco Steeger  (Carl von Ossietzky) mit ihrem bitteren Comedy-Pingpong und der wieder mal automatisch in Umlauf gesetzten Frage, wie viel Parodie der Umgang mit Hitler, womöglich aber auch, wie viel Hitler die Parodie noch verträgt. Wer sowas heute am Theater wagt, landet ja zwangsläufig irgendwo zwischen „Mein Kampf“ (wahlweise George Tabori oder Rimini Protokoll) und „Er ist wieder da“ nach Timur Vermes. In Mark Hayhursts Stück und der eher zaghaften Inszenierung von Jean-Claude Berutti bleibt dieser seltsame „Führer“,  der im Zeugenstand vom jungen Anwalt auf Ganovennormalformat gestutzt und dennoch nicht besiegt wurde, entschieden ungreifbar. Beim Verzweiflungsjux der drei Gefangenen, die mit schnarrendem Tonfall und „Heil“-Händchen aus dem Roboterprogramm das Gerichtsverfahren zur eigenen Erbauung nachstellen, schnalzt die ganze Aktion an allen Realitäten vorbei direkt ins aktuelle Event-Universum. Die Inszenierung, die sich als Mahnmal aufbaute, sammelt Lacher zum Abstützen. Die wirklich beeindruckende Geschichte von Irmgard und Hans Litten war nicht darauf angewiesen.

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Schauspielkritik von Dieter Stoll
für das Kritiken-Portal nachtkritik.de (Berlin)
www.nachtkritik.de

“Der Prozess des Hans Litten – Taken at Midnight” von Mark Hayhurst

Premiere: 8. Oktober 2016 im Schauspielhaus Nürnberg
Regie: Jean-Claude Berutti

Weitere Vorstellungen
15. Oktober 2016 – 19.30 Uhr
16. Oktober 2016 – 19.00 Uhr
04. November 2016 – 19.30 Uhr
14. November 2016 – 19.00 Uhr
16. November 2016 – 19.30 Uhr
19. November 2016 – 19.30 Uhr
24. November 2016 – 19.30 Uhr
26. November 2016 – 19.30 Uhr
04. Dezember 2016 – 19.00 Uhr
29. Dezember 2016 – 19.30 Uhr
01. Februar 2017 – 19.30 Uhr
09. Februar 2017 – 19.30 Uhr
19. Februar 2017 – 19.00 Uhr
26. Februar 2017 – 19.00 Uhr
 




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