Dem Egers sei (Frau ihr) Welt #3

MONTAG, 7. APRIL 2014

#Comedy, #Egersdörfer

Wenn curt einen Vorzeigekolumnisten hat, dann Matthias "Egers" Egersdörfer. Der wurde von uns durch Nötigung überrumpelt und kommt aus der Nummer nun nicht mehr raus - auch seine Frau ist ihm da normal keine Hilfe. Diesmal allerdings schon, denn der Meister war unpässlich. Danke, Natalie!

TANTE RIANNE
von Natalie de Ligt

Im Alter zwischen 0 und 12 Jahren verbrachte ich mit meinen Eltern praktisch jede Ferien in Holland bei der Familie väterlicherseits. Diese Urlaube bestanden in der Hauptsache darin, die gesamte Sippschaft abzuklappern, was jedes Mal expeditionsartige Ausmaße annahm. Obwohl die Niederlande nicht so groß sind, wechselten wir dabei mehrere Zeit- und Klimazonen.

Den dramatischen Höhepunkt erreichte die Reise immer dann, wenn wir ein paar Tage in Delft bei Tante Rianne weilten. Denn meine Tante Rianne war eine gebieterische Person, eine Besserwisserin und eine gefährliche Formalistin. Sie verfügte obendrein über eine mannigfaltige Zahl charakterlicher Unzulänglichkeiten, die sie erbarmungslos auslebte und die ihre Umgebung, ungeachtet von Alter, Geschlecht und Verwandtschaftsgrad, duldsam hinzunehmen hatte. Ihr Mädchenname, der, wie sie wohl selbst ahnte, ihr Wesen viel trefflicher umschrieb, war Kalthouser (Kalthauser). Und trotz Heirat nebst obligatorischer Namensannahme des Gatten blieb sie eine Kalthouser, innerlich und äußerlich. Bei der Entschlüsselung ihrer DNA stellte sich eine medizinische Sensation heraus: Man fand ein zusätzliches Chromosom – aus Granit!, in das in Altgriechisch die Worte Gnackschelln und Essigessenz eingraviert waren.

Dennoch mochte ich Tante Rianne in meiner kindlichen Begeisterung für jedwedes Abenteuer und für die Fassungslosigkeit, die sie in mir hervorzurufen vermochte. Während daheim in meiner kleinen Welt zwischen Spiel und Realität eine scharfe Grenze verlief, an der meine Mutter mit liebevoller Strenge patrouillierte, um von Zeit zu Zeit den unvermeidlichen Übergang mit dem Ruf „Raufkommen! Essen ist fertig!“ einzuleiten, gab es diese Grenze bei Tante Rianne nicht. Diese Frau zu erleben, war Abenteuer und Realität in einem. Sie selbst war das unberechenbare Abenteuer, die fleischgewordene Stiefmutter aus Schneewittchen, der Wolf aus Rotkäppchen, die bösen Schwestern aus Aschenputtel, der Flugsaurier aus Was ist Was, Madame Medusa aus Bernhard und Bianca – und ich mittendrin. Für ein paar Tage im Jahr war ich mental völlig absorbiert und irrlichterte im Charakterkosmos dieser höllländischen Verwandten. Ihrem Willen musste sich jeder zu jeder Zeit unterordnen. Niemand durfte größer sein als sie oder höher sitzen als sie. Deshalb gab sie für den Umbau von Schuhen und Möbeln viel Geld aus.

Zu Hause in ihrem Wohnzimmer saß sie auf einem reichverzierten, höhergelegten Polsterstuhl, von dem aus sie den Raum voll im Blick hatte und zugleich ihre gesamte Umgebung in Schach hielt, wie die Eiskönigin auf ihrem kalten Thron im Eispalast. Vor diesem Stuhl ließ sie jeden Morgen antreten und sprach auf uns herunter, auch auf mich, wenn ich zu Besuch war. Von hier aus verteilte sie die Tagesbefehle, Rügen und Backpfeifen. Ihren Ehemann, meinen Onkel Cees, habe ich nie anders als steifnackig und mit rotglühenden Wangen gesehen.

Egal, in welchem Gefüge sie sich bewegte, sie richtete es so ein, dass sie sich darin stets als die Nummer Eins wähnen konnte. Und wenn es der kurze Moment in der Bäckerei war, wohin sie mich gerne zum Tortenkauf mitnahm. Hier wurde ich mehrfach staunende Zeugin ihrer magischen Fähigkeiten, wie sie binnen Sekunden die zuvor arglos-schläfrige Atmosphäre des Bäckerladens komplett kippte und in einen Zustand aus Furcht und Schrecken stürzte. Der Bäckermeister bekam spontan graue Haare, ein ungewaschenes Gesicht, tiefe Ringe unter den Augen und er schrumpfte merklich. Tante Rianne hingegen war augenblicklich in eine scharlachrote Robe gewandet wie die Richter am Bundesverfassungsgericht. Es roch jäh nach Angstschweiß und Mülldeponie. Ich quiekte vor Angstlust und erntete dafür flehende Blicke der anderen Kunden. Tante Rianne deklamierte ihre Bestellung und überreichte dem Bäcker einen von ihr zum wiederholten Male überarbeiteten Maßnahmenkatalog „Zum korrekten Umgang mit Kundschaft“, den der Beklagenswerte bis zum folgenden Morgen auswendig zu lernen hatte. Außerdem untersagte Tante Rianne ihm Betriebsferien sowie Risikosportarten, sofern er keine ernstzunehmende Vertretung zu benennen vermochte. Sobald wir den Laden verließen, war der Spuk vorbei, nur die Scheiben der Bäckerei waren komplett beschlagen.

Tante Rianne hatte ein kantiges Gesicht, schmal wie ein PC-Turm. Statt der Knöpfe wölbten sich ihre beiden Augen in basedowscher Pracht aus der Gesichtsfassade hervor Die Nase stach wie ein Plastikdreieck heraus und zerteilte die Luft. Unter der Nase befand sich ein schmallippiger, zusammengestauchter Mund. Ich habe nie herausgefunden weshalb, aber Tante Riannes Stimme war blechern und ihren Worten wohnte die Emotion kaltgepresster Legosteine inne. Diese Disposition – und nicht nur diese – machte Tante Rianne anderseits zur alternativlosen Idealbesetzung für die Rolle der niederträchtigen Bösewichtin in meinen favorisierten Spielen. Anstatt jedoch mit mir Hänsel und Gretel oder Vom Fischer und seiner Frau zu spielen, las sie mir wahlweise Gesetzestexte, Psalme oder ihren Mietvertrag vor. Wenn sie in solch offiziellen Texten einen Fehler entdeckte, wich mit einem Mal alles Harte von ihr und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie offenbarte ihren Kummer, ob der Unzulänglichkeit der Welt. Dieses emotionale Risiko, das sie in solchen Momenten mir gegenüber einging, entfachte mein Mitgefühl – allerdings nur kurz und nur so lange, bis ihre Befugniseiferei wieder durchbrach und sie mich zwang, ein geharnischtes Schreiben an den Urheber der Fehler zu verfassen – auf Altgriechisch.

Sie selbst wirkte Zeit ihres Lebens wie ein unvollständiges Microsoft Office Paket, das nur aus dem Excel-Programm besteht. Und das war auch mein heimlicher Spitzname für sie:
Tante Excel.


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EGERSDÖRFER UND ARTVERWANDTE(u.a. auch mit "Der Frau ihr Welt" von und mit der scharfsinnigen Kunsthistorikerin Natalie de Ligt)
findet am Dienstag, den 8. April, ab 20 Uhr im KunstKulturQuartier (ex K4) statt (und wird ganz offiziell von curt präsentiert!).

Mit von der Partie auf der Gästecouch sind diesmal das österreichische „Kabarettmonster“ Martin Puntigam sowie der Kabarettist, Lyriker, Musiker und Künstler Josef Brustmann.
Und wie immer auch der bereits zum Kult avancierte Praktikant Philipp Moll, die unterwürfige Gespielin Carmen sowie Egersdörfers Ehefrau, die geistreiche und nicht minder scharfzüngige Kunsthistorikerin Natalie de Ligt. Durch einen heiter-bissigen Abend führt das einer bunt-verrückten Popwelt entsprungene „Nummerngirl“ Bird Berlin (Sänger und Tänzer Bernd Pflaum).
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Mehr von Matthias Egersdörfer:
www.egers.de




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#Comedy, #Egersdörfer

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