Pesenbach in der Isarvorstadt, 1826 Carl Friedrich Heinzmann, quelle: wiki

Oben München, unten Venedig – Münchner Stadtbäche

Der Platz rund um die Pfarrkirche St. Anna im Herzen des Lehel ist ein kleiner Ruheort, eingezwängt inmitten der lebhaften Großstadt. Das Spannende an Lehels zentralem Ruheplätzchen ist jedoch nicht das deutlich Sichtbare, sondern das, was untenrum passiert. Die Reise in die Vergangenheit führt in den Untergrund, direkt unter die Pfarrkirche. Wer von dort aus weiter Richtung Prinzregentenstraße läuft, dann die Augen schließt und einen ruhigen Moment erwischt, der hört es irgendwann leise gurgeln und plätschern. Von Schritt zu Schritt wird das Geräusch lauter. Man könnte sich nach Venedig träumen.

Venedig führt tatsächlich auf die richtige Fährte in Münchens Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert erhielt München den Spitznamen „Klein-Venedig“. Die Altstadt war durchzogen von plätschernden Bächen namens Roßschwemmbach, Katzenbach, Strohschwemm-, Münz- oder Krankenhausbächl. Der Stadtmühl- und der Stadtsägmühlbach fließen heute noch unter dem St.-Anna-Platz hindurch gen Norden. Die alte Münchner Stadtmauer war eingerahmt von Wasser. Heute weiß das kaum einer mehr. Kein Wunder: Zu sehen ist von alledem nichts, zwischen St.-Anna-Platz und Prinzregentenstraße bleiben immerhin die gurgelnden Töne.

Die Seitenarme der Isar hingegen winden sich überall unter der Stadt – nicht nur im Lehel: Ein Bächenetzwerk, 175 Kilometer lang, erstreckt sich unter München. Das entspricht in etwa der Entfernung von München bis nach Lienz oder Voralberg in Tirol. Zum Vergleich: Die Isar, die vom Karwendelgebirge in Tirol bis nach Deggendorf fließt, ist 295 Kilometer lang. Wären die Bäche nicht tief verborgen in Münchens Untergrund, sondern würden an der Oberfläche durch die Stadt sprudeln, wäre München tatsächlich wieder ein kleines Venedig.

Illu: Sven Oppel

Die früher wohl wichtigsten und größten Stadtbäche waren der Westermühlbach, der von Süden in den Glockenbach in der Pestalozzistraße und entlang der Sonnenstraße in den Westlichen Stadtgrabenbach übergeht. Der Westermühlbach speist die inneren Stadtbäche, die früher in die von den mittelalterlichen Stadtmauern umgebene Stadt flossen. Der zweite wichtige Arm – die Ergänzung zum Westermühlbach – ist der Pesenbach. Er speist die äußeren Stadtbäche, die in der Vergangenheit zwischen der Stadt und der Isar flossen. Beide großen Bachläufe sind bereits weiter südlich aus dem Großen Stadtbach entstanden – er verläuft noch heute auf der Westseite des Flauchers. Früher glitten dort große Flöße entlang, sie waren wichtig für den Münchner Handelsverkehr.

Von großer Bedeutung für München war damals außerdem der Dreimühlenbach. Er zweigt sich bereits vor dem Großen Stadtbach von der Isar ab. An ihm lagen drei wichtige Mühlen – unter anderem die Brudermühle, an die heute noch die Brudermühlstraße, die -brücke und der -steg erinnern. Auch das Dreimühlenviertel ist nach dem früheren Bachlauf benannt.

Nach und nach nahm die Bedeutung der Stadtbäche für München ab. Mehr noch: Für die schnell wachsende Landeshauptstadt wurden sie zur Last. Es wurde mehr Platz benötigt, mehr und mehr Wohnungen sollten gebaut werden. Stadtbäche mussten weichen. Spätestens mit dem Bau der U-Bahn in den 1960er-Jahren wurden die meisten Bachläufe zugeschüttet.

Im Sinne der Bürger war das nicht immer – schnell formierte sich Widerstand: Bereits in den 1970ern protestierten viele Münchner, die ihre Bäche wiederhaben wollten. Zahlreiche Bürger und Initiativen haben damals mehrere Anläufe genommen, Betondeckel wieder aufzureißen. Seit einem Stadtratsbeschluss von 1999, den Auer Mühlbach nördlich des Nockherbergs von seinem Betondeckel zu befreien, sind die Stadtbäche wieder komplett ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Bis heute kämpfen die Umweltschutzorganisation Green City e. V. und das Münchner Forum darum, Münchner Stadtbäche erneut an die Oberfläche zu holen, was große Zustimmung im Stadtrat findet. Natürlich ist das mittlerweile nur noch an wenigen Stellen möglich.

Eine Machbarkeitsstudie zeigt aber: Gerade zwischen Sendlinger Tor und Stachus, wo parkende Autos aktuell jede Aufenthaltsqualität nehmen, ist es möglich, den Westlichen Stadtgrabenbach wieder nach oben sprudeln zu lassen. Momentan fließt der Bach durch die Herzog-Wilhelm-Straße bis zur Joseph-Spital-Straße in etwa vier Metern Tiefe. Mithilfe von Pumpen und Turbinen, die der Bach selbst antreibt, könnte er nach oben geholt werden – damit wäre er energieautark und würde zudem aktiv das Umgebungsklima verbessern. Denn die Stadtbäche verbreiten nicht nur einen Erholungseffekt und werten die Münchner Innenstadt auf, sie mildern durch ihre kühlende Wirkung außerdem die durch den Klimawandel zu erwartenden Hitzewellen ab.

München profitiert heute immerhin noch von ein paar seiner unterirdischen Bäche: Vom 175 Kilometer langen Netzwerk ist zum Beispiel der Auer Mühlbach geblieben, der von der Marienklause durch den Tierpark und das Schyrenbad fließt. Außerdem der Hachinger Bach, der von Perlach ins Stadtgebiet fließt und den Ostpark durchquert. Und natürlich der berühmte Eisbach, der mit seiner Welle sommers wie winters Surfer anlockt, sowie der Glockenbach, der einem ganzen Szeneviertel einen Namen gibt. Er fließt allerdings nur 500 Meter weit oberirdisch. Aber pst: Wer mehr von Münchens Stadtbächen haben will, kann vorsichtig den Kanaldeckel vor dem Kiosk am Sendlinger Tor anheben: Dort sieht man den unterirdischen Westlichen Stadtgrabenbach mit all seiner Wucht sprudeln. Oder natürlich: Die Augen zwischen St.-Anna-Platz und Prinzregentenstraße schließen und sich akustisch auf eine Reise in Münchens Vergangenheit gleiten lassen.


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Das Interview ist in unserer Ausgabe curt #87 erschienen. Text: Franziska Bär, Illu im Artikel: Sven Oppel